Projekte aus dem Landesverband
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Helene von Gersdorff

Block 4F
Helene von Gersdorff

Helene von Gersdorff Archiv

Am 22. August 1923 wurde Helene von Gersdorf in Dresden geboren. In den ersten Jahren nach ihrer Geburt hatte sie eine Gehirnentzündung, die bei ihr Krampfanfälle auslöste und ihre mentale Entwicklung einschränkte. Mit drei Jahren wurde sie zum ersten Mal in der Landesheil- und Pflegeanstalt Arnsdorf aufgenommen, von wo sie vier Jahre später in die Pflegeanstalt Bethesda in Radebeul verlegt wurde. Dort lebte sie neun Jahre, bis sie 16 Jahre alt war. 

Behinderungen, körperlicher und geistiger Art, aber auch psychische Erkrankungen wurden im 19. Jahrhundert in einer kapitalistisch orientierten Gesellschaft in erster Linie als Defizit definiert. Damit einher gingen Forschungen und Versuche Behinderungen zu verhindern oder zu therapieren. Behinderte Menschen wurden als soziales Problem verstanden, das vor allem durch private (aber auch zunehmend staatliche) Initiativen „gelöst“ werden sollte. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Idee der Rehabilitation institutionalisiert, so begannen schon um 1900 viele konfessionelle Einrichtungen Kinder aufzunehmen und langfristig zu pflegen und zu bilden. Mit dem Ersten Weltkrieg und der daraus resultierenden Zunahme an körperlichen Behinderungen wurde das Rehabilitationsparadigma auch in das staatliche Versorgungswesen mit aufgenommen. 
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 nahmen die negativen Vorurteile und Diskriminierungen zu. Bereits ab 1934 waren Zwangssterilisationen zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlaubt, wovon mindestens 350 000 Menschen betroffen waren. Die bereits vorhandene Idee Menschenleben als „lebensunwert“ zu definieren, und an wirtschaftlicher Rentabilität zu messen, erstarkte, was u.A. als Rechtfertigung für das folgende „Euthanasie“-Programm genutzt wurde. 

Der Begriff bedeutet übersetzt so viel wie „schöner Tod“, beschreibt aber während des Dritten Reiches die systematische Ermordung von Menschen mit Behinderungen oder psychischen Krankheiten, aber auch Menschen, die aufgrund anderer Eigenschaften als minderwertig klassifiziert wurden. 
Ab 1939 war es Pflicht Säuglinge und Kleinkinder mit „schweren, angeborenen Leiden“ beim Reichsausschuss zu melden, erst bezog sich dieser Entschluss nur auf Kinder bis drei Jahre, wenig später auf Jugendliche bis 16 Jahre. Diese Kinder und Jugendlichen wurden in „Heilkliniken“ untergebracht, wo an ihnen entweder experimentiert wurde, oder sie getötet wurden. Insgesamt wird hier von ca. 5 000 Toten ausgegangen, auch wenn deutlich mehr Kinder auf andere Weise im Kontext der „Euthanasie“-Morde starben.
Wenige Monate später mussten auch volljährige Patient:innen in Pflegeeinrichtungen oder Kliniken gemeldet werden, woraufhin ein Gutachter entschied, was mit ihnen passieren wird. Dies war der Beginn der Aktion T4 (benannt nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin, von wo diese Aktion organisiert wurde), bei der über 100 000 Menschen getötet wurden. Sie wurden in Tötungsanstalten verlegt, wo sie zuerst durch Injektionen, später durch Kohlenstoffmonoxidgas ermordet wurden. Die Angehörigen wurden fiktive Todesursachen mitgeteilt. 
Die Aktion wurde im August 1941 aus „innenpolitischen Gründen“ offiziell eingestellt,  wurde aber verdeckt vor allem in Konzentrationslagern und den besetzten Gebieten fortgeführt. 

Helene von Gersdorff war sechzehn Jahr alt, als die Aktion T4 begann. Offiziell war es nicht bekannt, was mit den Personen geschah, die „im Sammeltransport verlegt“ wurden, wie es offiziell in der Krankenakte vermerkt wurde.  Dennoch war es natürlich Angestellten der Pflegeeinrichtungen bekannt  und auch Helenes Mutter erfuhr von der Aktion. In den folgenden Monaten versuchte sie ihre Tochter zu retten, indem sie sie regelmäßig in verschiedene Einrichtungen verlegen ließ, u.A. in die Heil- und Pflegeanstalt Klein-Wachau bei Dresden, auf den Katharinenhof in Großhennersdorf bei Zittau und in die Bodelschwinghschen Anstalten nach Bethel bei Bielefeld. Am 13. August 1943 wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Großschweidnitz verlegt, wo sie am 22. August 1943, an ihrem 20. Geburtstag, ermordet wurde.

Helene wurde auf dem Johannisfriedhof in einem Einzelgrab beigesetzt, welches lange Zeit unbeachtet überdauerte. Erst vor wenigen Jahren wurde man wieder auf das Grab und die damit verbundene Geschichte aufmerksam, woraufhin der Prozess begann sie offiziell als Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft anerkennen zu lassen. Dadurch kann ihrer Grabstätte nun gemäß des „Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ (ugs. Gräbergesetz) das dauernde Ruherecht zukommen, was es ermöglicht ihr Grab als Mahnung für den Frieden auch für kommende Generationen zu erhalten. Im Rahmen eines Projekts mit einer Schulklasse, die sich so mit der Thematik befasst hat, entstand das Hörspiel „Mein Lenchen“, das sich mit ihrem Leben beschäftigt. Es dauert ca. 13 Minuten und kann auf dieser Seite angehört werden. 

Nach der deutschen Kapitulation 1945 und der darauffolgenden Besetzung durch die UdSSR begann die juristische Verfolgung der begangenen Verbrechen. Die Prozesse gegen zwei Ärzte und eine Schwester, die in der Anstalt Großschweidnitz gearbeitet haben, fanden 1946/47 statt. Sie standen wegen der Tötung von einmal 100, einmal 150 und einmal 400 Personen durch eine Überdosis des Narkosemittels Luminal (heute: Phenobarbital) vor Gericht. Obwohl sie alle für schuldfähig befunden wurden, „mußte das Schwurgericht ihre Straftaten milder beurteilen“.  Grund dafür war die schlechte Versorgungslage im letzten Kriegsjahr, da es nicht genügend Lebensmittelrationen und Pflegepersonal für die überbelegte Einrichtung gab.